Maria Farantouri, Zülfü Livaneli und das Dortmunder Plattenlabel “pläne”

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Mitte der 1960er machte sich Maria Farantouri mit der Veröffentlichung ihrer ersten LP auf dem griechischen Musikmarkt einen großen Namen. Sie sang die von Mikis Theodorakis zuvor vertonte Mauthausen Kantate, die sich auf den gleichnamigen Roman vom griechischen Autor und Dichter Iakovos Kambanellis bezog. Iakovos Kambanellis war zwei Jahre lang im Konzentrationslager Mauthausen (Österreich) inhaftiert und schildert in seinem Roman die Zeit kurz vor und nach der Befreiung aus dem KZ.

1967-74 übernahm das griechische Militär die Kontrolle Griechenlands. Bereits zu Anfangszeiten dieser Machtübernahme flohen zahlreiche GegnerInnen des Militär-Regimes aus Griechenland, darunter auch Maria Farantouri. Es folgten weltweite Konzertauftritte mit namhaften MusikerInnen und politischen Botschaften an die Weltgemeinschaft gegen die Militärdiktatur in Griechenland. Ende der 1970er begegnete Maria Farantouri den türkischen Musiker Zülfü Livaneli, der als regiemfeindlicher Musiker bis Mitte der 1980er außerhalb der Türkei lebte – auch die Türkei erlebte zu diesen Zeiten mehrere Militär-Regime. Gemeinsam traten sie für Frieden zwischen Griechenland und der Türkei auf und sprachen sich gegen Militärdiktaturen aus.

1982 folgte dann die LP mit dem Titel „Ensemble“. Das Besondere an diesem Musikalbum ist die Zusammenstellung der einzelnen Titel, die überwiegend an die vorigen regiemkritischen Arbeiten Zülfü Livanelis angelehnt sind. Darunter die Filmmusik „Sürü“ (die Herde) vom kurdischen Filmregisseur Yılmaz Güney sowie Lieder vom türkischen Dichter Nazım Hikmet. Zu zwei Instrumentalkompositionen Zülfü Livanelis wurden griechische Liedertexte vom Schriftsteller und Dichter Lefteris Papadopoulos geschrieben und die übrigen Lieder auf Griechisch und Türkisch gesungen.
Das Album erlangte damals den ersten Platz der griechischen Musikcharts und galt als bahnbrechende Arbeit neuer musikalischer Ausdrücke in Griechenland. Auch International war die LP erfolgreich. In Deutschland wurde das Album mit dem Jahrespreis „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ geehrt. Der niederländische „Edison Award“ nominierte das Album als herausragende Arbeit.

Bis heute haben diese KünstlerInnen einen großen Stellenwert in Griechenland und in der Türkei. Zudem gilt das Album immer noch als vorbildliche Arbeit mit wuchtigen gesellschaftspolitischen Botschaften. Die Botschaft der Gemeinsamkeiten, des friedlichen Zusammenlebens und gegen gesellschaftliche Spaltungen. Schön auch zu lesen, dass diese Botschaft von Dortmund aus gesendet wurde. In der Ruhrpottstadt wurde nämlich die LP vom politisch links zugeordneten Plattenlabel „pläne“ veröffentlicht.

Zu hören gibt es das Album hier:

Digitale Kultur in Zeiten der Corona-Pandemie

© PIXABAY

Der Corona-Virus hat unseren Alltag weltweit lahmgelegt. Wer hätte das wohl gedacht?! In einigen Ländern sind bereits Ausgangssperren verhängt worden und weitere werden anscheinend noch folgen.
Um die Zeit in den eigenen vier Wänden so gesund wie möglich verbringen zu können, habe ich die folgende Liste bereitgestellt. Hier sind Links von Kunst- & Kultureinrichtungen, Kunst- & Kulturprojekten oder aber auch von Kulturschaffenden zu finden, die ihre künstlerischen und kulturellen Erzeugnisse digital präsentieren.

So wichtig ist die “Digitale Kultur”:
Die global vernetzte Welt bringt viele Herausforderungen mit sich – nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für (nicht)staatliche Institutionen. Seit den immer fortschreitenden technischen Möglichkeiten der virtuellen Welt beschäftigt man sich im Kunst- und Kulturbetrieb mit der Frage, welche Maßnahmen zu treffen sind, um den technischen Entwicklungen stand halten zu können. Im Kern dieser Frage geht es auch um den Aspekt der Zugänglichkeit bzw. die Öffnung der Institutionen für Menschen im engeren und um die Demokratisierung des Kunst- und Kulturbetriebs im weiteren Sinne.
Wie das in die Praxis konkret umgesetzt wird, ist anhand der unterschiedlichen virtuellen Projekten zu erkennen. In dieser Liste finden Sie kurze interkontinentale Reisen und erhalten beispielsweise einen Blick in die Museen in Washington National oder können ausgewählte Radiostationen weltweit live anhören.

Die Absicht dieser Aktion ist es, neben der Beschäftigungsmöglichkeit daheim, den Menschen zu zeigen, welche Möglichkeiten durch das Internet entstanden sind, um ortsungebunden Zugang zu Kunst und Kultur zu erlangen. Damit soll auch die Motivation mitgegeben werden eigenständig nach ähnlichen Projekten im Internet zu erkundigen.

Museen:

Das Virtuelle Migrationsmuseum

National Galery of Art – Washington D.C.

The Virtual Museum of Iraq (Voraussetzung: Adobe Flash oder Quicktime)

Museum of Art São Paolo

Womenshistory

Musical Instrument Museum Online

BioExplora

Literatur:

Online-Literatur-Archiv: Gutenberg Projekt

Goethe-Institut (Kultur)

Hörspiele, Hörbücher: Deutschlandfunk

Hörspiele, Hörbücher: WDR

Musik:

NDR Kultur NEO

Mahogany (Youtube-Channel)

Balcony (Youtube-Channel)

KCRW (Youtube-Channel)

Online-Gitarrenschule, Jürgen Hochweber

Bildung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene:

Serlo – Lernplattform

Online-Kurse von verschiedenen Universitäten

WDR-Die Maus (für Kinder)

ZDF-Löwenzahn (für Kinder und Jugendliche)

BR-Schule Daheim (für Kinder und Jugendliche)

BR-Lernen (für Kinder und Jugendliche)

ALBA Berlin-ALBAs Sportstunde (für Kinder und Jugendliche – Youtube Channel)

Allgemein:

Google-Arts-Centre

Europeana: Mehr als 50 Millionen Erzeugnisse aus Institutionen der Europäischen Union

ARTE.TV

ROMARCHIVE

Live:

Das globale Live-Radio

LIVE ONLINE QUARANTÄNEN KONZERT- UND LESUNG-TERMINE:

LITERATÜRK


Allen Einrichtungen und Persönlichkeiten, die mit Livestreams unser Leben bereichert haben, möchte ich danken. Livestreams dieser Einrichtungen und Persönlichkeiten habe ich hier veröffentlicht:

Budapest Festival Orchestra
Kenan Tülek
Staatstheater Hannover
Serkan Yılmaz
Bayerische Staatsoper
Sulaiman Masomi
Konstantin Wecker
Elbphilharmonie Hamburg
ARTE.TV


Kulturpolitische Gedanken und Neujahresgrüße 2019

Der gute alte Mythos

Tja, beim Thema „Musikinstrument erlernen“ könnte man die besten Gedanken um Philosophie, Ästhetik und Struktur sowie letztendlich individueller Kompetenzerweiterung auf den Tisch legen.
Ein Musikinstrument zu erlernen bedeutet gleichzeitig sich mit Mathematik, Physik zu beschäftigen, die Lehren Pythagoras und Fibonaccis ganzheitlich zu verstehen und diese sogar in der Praxis im Idealfall schon im vorschulischen Alter anzuwenden. Literatur tief aufzusaugen, wo im Gegensatz die Schulen nicht mal imstande sind Kindern und Jugendlichen einige wenige Seiten zum lesen zu bringen. Geistige (Konzentration etc.) und physische (motorische) Fähigkeiten auszubauen sowie Disziplin einzufordern.
Das sind so die gängigsten Vorteile, die genannt werden, um jemanden zu überzeugen ein Musikinstrument zu erlernen. Das ist natürlich Quatsch.

Kurzer Vergleich mit Fußball: Bewusst provokativ ausgedrückt lernt man auch im Fußball Mathematik und Physik – man denke nur an die extrem filigranen Ballführungen und präzisen Schusstechniken von Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Literatur? Es gibt mittlerweile zahlreiche Biographien von Fußballspielern – Oliver Kahns selbstgeschriebenes autobiographisches Buch hat es immerhin bis zum renommierten Literaturkritiker Denis Scheck geschafft – aber zugegeben nicht in den höchsten Tönen gelobt. Bekanntlich fordert und fördert auch der Sport die geistige und motorische Fähigkeit eines Menschen.

Worum geht es eigentlich in der Diskussion um das Erlernen eines Musikinstrumentes?

Genau hier setze ich an und versuche die Positionen dahin zu bringen, wo sie letztendlich auch hingehören: In das Feld der Bodenständigkeit und kritischen Auseinandersetzung. Denn die erwähnten Vorteile bilden einen eindimensionalen Eindruck, der eher von kultureller Hoheit bestimmt und daraus resultierend von hierarchischen Denkmustern geprägt ist. Beruhend auf meine Beobachtungen und Erfahrungen behaupte ich, dass es bei der mehrheitlichen Diskussion um das „Musizieren“ lediglich um zwei Aspekte geht, die auf neoliberale Grundeinstellungen basieren: Entweder um Kulturpflege, die sich beispielsweise in staatlichen Förderprogrammen in Begriffen wie Heimatpflege manifestieren oder um die maximale Förderung eines Kindes.
Der erst genannte Aspekt setzt ein starkes kulturpolitisches Feingefühl voraus, gerade in Zeiten kultureller Grenzziehungen durch national-konservative Gruppen. So fordert beispielsweise die Partei Alternative für Deutschland (AfD), dass der inhaltliche Fokus der Erinnerungskultur vielmehr auf „positiv identitätsstiftenden Aspekte der deutschen Geschichte gelegt werden“1) solle. Damit ist zum einen die von der AfD gewünschte Verdrängung Hitler-Deutschlands aus den Geschichtsbüchern gemeint und zum anderen die Stärkung einer deutsch-nationalen Identität als Gegenbewegung zum proklamierten Begriff „Vielfalt“ der Kulturen und Individuen.
Mit dem zweit genannten Aspekt werden sich wohl PädagogInnen bestätigt fühlen, denn es handelt sich im Allgemeinen um ein „Erziehungsproblem“. Das Kind soll innerhalb kürzester Zeit so viel lernen, wie es möglich ist und dabei innerhalb von Konkurrenzgesellschaften hervorstechen. Dabei ist die zeitliche Komponente für Menschen mit viel oder wenig Geld relevant und bestimmt somit einen unausgesprochenen, aber klar erkennbaren Maximalismus. Man erhofft sich dadurch das eigene Kind zu einem, wie es in der spirituellen Welt neuerdings heißt, „Super-Human“ zu formen, der all seine Sinne aktivieren und im neoliberalen Sinne dadurch jegliche Vorteile auf Märkten für sich beanspruchen kann.

Kulturpolitischer Doppelstandard und Schulen

Das Erlernen eines Musikinstruments verkommt im Endergebnis zu einem zweckgebundenem Mittel und dient daher vornehmlich nur denjenigen, die a) finanziell oder b) in der formalen Bildung gut gestellt sind. Wie wirkt sich das in der Praxis aus? Finanziell gut gestellte Musikinteressierte haben wesentlich mehr Möglichkeiten aus staatlichen oder privaten Fördermitteln der Kunst- und Kultursparten zu profitieren, während Musikinteressierte aus ökonomisch schwachen Verhältnissen letztendlich eher mehr auf Förderprogramme von Sozialfonds zurückgreifen. Dort geht es dann allerdings nicht um künstlerisch-ästhetische Fragen und Aspekte, sondern um sozialpolitische Zielsetzungen wie beispielsweise „Integration“. Wer mich gut kennt, weiß genau, dass ich von solchen Begrifflichkeiten wie „Integration“ gar nicht viel halte, diese sogar als menschenfeindlich einstufe, weil derartige Begriffe keinen Raum für Details zulassen und vielmehr ein schmales kategorisches Denken fördern und fordern, was letztlich auch dazu führt, dass jedeR sich dazu berufen fühlt den Anderen weiszumachen wie man sich zu „integrieren“ habe, also im Klartext zu leben habe. Daher bewegen sich diese auch vielleicht gut gemeinten Begriffe eher im Kreis der Intoleranz.

In Schulen sieht es konkret folgendermaßen aus: Ich habe in meiner Herkunftsregion Altersgenossen kennenlernen dürfen, die begnadete Musiker waren, aber aufgrund ihrer jungen Lebensjahre in Deutschland auf eine Sonderschule mussten. Auf der Sonderschule konnten sie nur sehr bedingt ihre musikalischen Fähigkeiten und Interessen freien Lauf lassen. Auf Real- und Hauptschulen hätte es womöglich nicht besser ausgesehen. Gerade deshalb bin ich dagegen, dass Gymnasien erheblich mehr von Förderprogrammen profitieren dürfen als Real-, RealPlus- Haupt- und Sonderschulen. „Wer Musik lebt, schafft die Schule mit links“, sagte mal ein elitärer Musikgelehrter. Ja, eben nicht. Wer Musik lebt, kann selbstverständlich aufgrund anderer Faktoren die Schule nicht mit links schaffen.

„Was tun?“, sprach Zeus

Unser heutiges Bildungssystem ist stark reformbedürftig und sitzt immer noch in alten Strukturen fest. Verfolgt man die aktuellen Debatten um Digitalisierung in Schulen, so bleibt für die Zukunft wenig Hoffnung, dass diese gegen unsere Zeit gerichteten Strukturen sich auflösen. Dejan Mihajlovic bringt die Problematik in seiner Kolumne im Deutsches Schulportal auf den Punkt:

„Vielleicht liegt es an dem lange und viel zu häufig verwendeten schwammigen Begriff ´Digitalisierung´ und dem gedanklichen Rahmen, den er schafft, dass die digitale Transformation – beziehungsweise der kulturelle Wandel, der für die grundlegenden Veränderungen gesellschaftlicher Ordnung steht – missverstanden wurde und wird. Wenn nämlich der notwendige Wandel im Bildungswesen darin bestehen soll, die bisherigen Strukturen und Inhalte lediglich zu digitalisieren, dann ist das kein erster Schritt in das Zeitalter der digitalen Transformation, sondern das digitale Konservieren einer bereits überholten Lernkultur.“2)

„Was tun?“, sprach Zeus. Die Beschäftigung mit diesem Thema erweitert unser demokratisches Verständnis und lokalisiert zunächst Problemfelder, die behoben werden müssen. Daher fordere ich schon seit langem, dass die Möglichkeiten der Beschäftigung mit Kunst und Kultur mit all ihren ästhetischen Ausrichtungen nicht nur in allen Schulformen gerechter geregelt, sondern auch in das Alltagsleben der Menschen hineingetragen werden sollen. In Zeiten einer extrem kapitalistischen Ordnung und das doppeldeutige Verständnis von Individuum (als Konsument wertvoll, aber als soziales Wesen uninteressant) benötigen wir Menschen und Vereinigungen, die diesem Verständnis entgegentreten. Das funktioniert aber nicht ohne die notwendige Überzeugung selbst aktiv zu werden. In diesem Sinne für das neue Jahr 2019 alles Liebe und Gute mit den Schlussworten: findet euch, schließt euch zusammen…

1)https://www.afdbundestag.de/arbeitskreise/kultur-medien/
2)https://deutsches-schulportal.de/stimmen/digitale-plattformen-konservieren-eine-ueberholte-lernkultur/

Aufruf für die Bekanntmachung von „Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur“

Seit 4 Jahren habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht alle 2-3 Monate zur Buchhandlung zu gehen und dort mir die aktuellen Ausgaben von Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur zu kaufen. Allein der Begriff „Gegenkultur“ zeugt Aufmerksamkeit. Dieser deutet nämlich auf die ablehnende Haltung der politisch linksgerichteten jungen Generation in den 60er Jahren gegenüber etablierten Gesellschaftsstrukturen hin.

Bei meinem letzten Gang erfuhr ich von der Mitarbeiterin der Buchhandlung, dass die Produktion dieser Zeitschrift eingestellt wurde. Ich erkundigte mich nach den Gründen der von der Mitarbeiterin behaupteten Produktionseinstellung. Handelte es sich um eine Beendigung der Produktion oder „nur“ über einen vorübergehenden Produktionsstopp? Tatsächlich war letzteres aufgrund finanzieller Knappheit der Fall. Detaillierte Erläuterung hier.

Konzeptionell richtete sich M&R bis 2017 überwiegend musikkulturellen Themen. Die HerausgeberInnen entschlossen sich daraufhin das Konzept auf weitere Themenfelder der Kunst & Kultur auszuweiten und dieses als Magazin für Gegenkultur zu vermarkten. Mit der konzeptionellen Änderung erschien das Magazin vierteljährlich – davor alle zwei Monate.

Das Besondere an Melodie & Rhythmus…

Melodie & Rhythmus ist ein auf dem Zeitschriftenmarkt einzigartiges Exemplar, das es tatsächlich schafft Kapitalismuskritik und Musik über sehr relevante lokal, regional und global ausgerichtete Themenfelder zu erläutern. Die Zeitschrift trägt maßgeblich dazu bei, Musik nicht nur als elitäres, szenentypisches und romantisches Kulturgut zu verstehen, sondern als eine gesamtkulturelle Eigenschaft der allgemeinen Menschheit wahrzunehmen, deren Gewichtung in allen Bereichen unseres Leben zur Geltung kommt und mit kritischem bzw. antikapitalistischem Blickwinkel zu genießen ist; Wirtschaft, Religion, Politik, Soziales und neuerdings unter Berücksichtigung der digitalen Welt.

Als ich über den Produktionsstopp erfuhr, schien ich mich neu kennengelernt zu haben, da mich im wahrsten Sinne des Wortes eine große Mutlosigkeit hinsichtlich einer fehlenden Stimme gegenüber einem kulturimperialistischen Duktus erfasste.

Was benötigt Melodie & Rhythmus…

Wie aus dem Werbebanner zu entnehmen ist, benötigt M&R mehr Absatzzahlen, um die Rentabilität langfristig zu sichern. An so einem Punkt mag man schreiben: „unterstützt die Arbeit von M&R“, aber das Wort “unterstützen” reduziert in meinen Augen die wertvolle Arbeit der M&R Redaktion. Daher habe ich auch genau in dieser Zeile einen kurzen Halt gemacht und die Überschrift von „Aufruf für den Erhalt und die Weiterführung…“ auf „Aufruf für die Bekanntmachung…“ geändert. Denn M&R muss wahrlich nicht unterstützt werden, sondern vielmehr bekannter unter den deutschsprachigen Gesellschaften werden. Wer für sich auch nur eine Ausgabe erwirbt, wird schnell die Besonderheit dieses Magazins feststellen. Daher mein Aufruf: Abonniert Melodie & Rhythmus – Magazin für Gegenkultur und macht eure Freunde und Bekannte auf dieses Magazin aufmerksam.

Direkter Link zum Abonnement: http://www.melodieundrhythmus.com/perspektivabo/

Tipp: Bevor ihr aber die Zeilen wild ausfüllt, klickt euch einfach mal auf der Homepage durch und gewinnt erste Eindrücke 🙂

Das Überleben der Musik-CD in der Türkei

Die Bedeutung von Musik-CDs rückt seit einigen Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund des Musikkonsums. Auch wenn die daraus entstehenden Zustände auf den nationalen Musikmärkten als ein weltweites Phänomen angesehen werden, sind diese in jedem Staat unterschiedlich nuanciert. Ein kurzer Überblick über die aktuelle Lage in der Türkei.
Währungs- bzw. Wechselkurs Stand 22. Juni 2018: 1€ = 5,49 Türkische Lira (TL)


© Ibrahim Kızılgöz, Cenk Erdoğan

Der Musikmarkt in der Türkei befindet sich seit dem Aufkommen des Internets auf der Suche nach einer stabilen Einkommensmöglichkeit für Musiker. Noch bis vor der Digitalisierung von Audioaufnahmen konnten sich Sänger oder Instrumentalisten durch Schallplatten- und Kassettenverkäufe ihr Lebensunterhalt sichern. Kurze Zeit später kam die Compact Disc (CD) dazu, mit der Eigenschaft digitale Daten wiedergeben zu können. Schallplatten und Kassetten wurden durch die CD ersetzt und gehören heute weltweit längst zur Nostalgieware, die ihren Platz entweder in Archivregalen von Radiosendern und DJs, bei begeisterten Sammlern oder auf dem Müllplatz findet. Bei der CD hingegen sieht es „noch“ etwas anders aus. „Noch“ deshalb, weil die CD sich – vor dem vollständigen Übergang in die Nostalgie – in einer Grauzone voller wirtschaftlichen Risiken befindet.

Nicht abzustreiten ist, dass der Gebrauchswert von CDs unter Konsumenten aufgrund der Möglichkeit Musik im Internet zu konsumieren, gesunken ist. Daher ist heutzutage eine limitierte Auflage eines neu erschienenen Musikalbums von gerade einmal maximal 1.000-2.000 CDs auf dem türkischen Musikmarkt üblich, was folglich die Erfolgserwartungen verkaufter CDs verringert. Weitere CDs werden ab einer bestimmten Mindestanzahl von Nachfragern produziert. Selbst Superstars aus der türkischen Popmusik wie Tarkan müssen sich mit einer relativ niedrigen Verkaufszahl von 150.000 CDs zufrieden geben und als „Riesenerfolg“ propagieren. Mit bereits 50.000 CDs ist man landesweit in den TOP 10 der bestverkauften Alben sicher vertreten, mit 15.000 CDs könnten sich x-Beliebige einen Platz unter den TOP 50 praktisch erkaufen und die Musikindustrie eines ganzen Landes aufmischen.

Was einst als Kerngeschäft der Musikindustrie galt, marginalisiert sich somit zunehmend zu einem finanziell geringwertigem Nebengeschäft mit viel Risikopotential. Dieser Zustand trifft besonders wenig populäre Musiker wie den kurdischsprachigen Musiker Ozan Irmak hart: „Ich muss bei einer 4-minütigen Aufnahme in einem professionell ausgestatteten Tonstudio mit 1.500-1.600 TL Kosten rechnen. Bei dem aktuellen Mindestlohn von 1.603 TL im Monat frage ich mich natürlich, wo das Ganze hinführen soll. Genau aus dem Grund entstehen neue Aufnahmeformate wie music sessions mit Liveaufnahmen, die anschließend auf diversen Internetplattformen wie beispielsweise YouTube abrufbar sind. Die sind deutlich billiger, führen aber dazu, dass die Grenzen zwischen Musik und Markt extrem schwanken.

Auch wenn eine Absatzverlagerung vom physischen (Schallplatten, Kassetten, CDs) zum digitalen (Download, Streaming) Markt stattgefunden hat, bleiben trotzdem CDs für Musiker aus werbestrategischen Gründen von wichtiger Bedeutung. Denn die Funktion von CDs sind heute für Musiker vielmehr als Visitenkarten zu verstehen, womit sie sich auf dem Markt effektiv behaupten können.

Problemfaktor Schwarzmarkt

Jüngste Berichte des türkischen Markenschutzverbandes für Marken- und Produktpiraterie (Marka Koruma Grubu) zeigen deutliche Problemfelder. Schätzungsweise beträgt das Gesamtvolumen des Schwarzmarktes in der Türkei bei 17,2 Milliarden US-Dollar (weltweit auf Platz 2, hinter China), exklusive dem widerrechtlichen Handel auf dem Internetmarkt. Im Vergleich zu den Vorjahren ist die Tendenz signifikant steigend – noch 2016 betrug der Schätzwert bei 10 Milliarden US-Dollar. Da der Verband Musik-CDs mit Film-DVDs statistisch in der Kategorie Geistiges Eigentum festhält, gibt es keine genauen Eckdaten über Raubkopien von original Musik-CDs. Allerdings berichtet der Verband, dass die illegale Nutzung des Geistigen Eigentums bei Musikstücken zwischen 80% und 90% liegt.

Die türkische Verwertungsgesellschaft für Phonoindustrie Bağlantılı Hak Sahibi Fonogram Yapımcıları Meslek Birliği (MÜ-YAP) betont, dass trotz des Rückgangs physischer Produkte (CDs, Schallplatten etc.) weiterhin die CD-Piraterie überwacht wird. In Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen konzentriert sich MÜ-YAP vielmehr auf die illegale Nutzung im Internet durch Down- und Uploads, wozu Überwachungen auf Foren, Blogs, Convert-Seiten usw. zählen. Laut dem Weltverband für Phonoindustrie (IFPI) beträgt der weltweite illegale Download- und Upload von Musikstücken bei 35%. Ob man aber tatsächlich technisch und rechtlich gegen diesen Zustand angehen kann, bleibt fraglich. Denn so sehr sich MÜ-YAP auch gegen den illegalen Markt zu bemühen scheint, beklagen sich Musiker schon länger über die lahme und nicht funktionierende Struktur der Verwertungsgesellschaft.

Die Attraktivität originaler Musik-CDs

Um CDs so verkaufsfördernd wie möglich zu gestalten, haben Labels wie Kalan, dessen Hauptanliegen es ohnehin ist historisch und gesellschaftlich bedeutungsvolle Musikalben auf den Markt zu bringen, CDs mit Booklets ausgestattet. In diesen Booklets findet man Wissenswertes über die unterschiedlichen Ethnien und Musikkulturen der Türkei, zum Teil auch auf Englisch. Dadurch erreichen derartige CDs die Funktion den kulturellen Mehrwert der Türkei landesweit und darüber hinaus nicht nur musikalisch zu vermitteln. Auch Musiker tendieren heute dazu, einen persönlichen Bezugspunkt in ihre CDs einzubauen, um somit zumindest das Gefühl des emotionalen Teilens zwischen Musiker und Zuhörer zu fördern. Bilder von Familienmitgliedern, verstorbenen Freunden oder von eigenen Haustieren, aber auch intime Notizen sind daher keine Seltenheiten mehr. Diese Art von Gestaltungen seitens der Labels und Musikern erhöhen den Gebrauchswert von CDs und regen Konsumenten zum Kauf originaler CDs an.


© Ibrahim Kızılgöz, Cenk Erdoğan

Besonders durch den Währungsverfall der TL ist der Kauf von CDs für Konsumenten aus den Euro-Ländern „unverschämt“ günstig. Neu erschienene Alben kann man bereits für 18 TL erwerben. Ob bei diesen Preisen der CD-Markt in der Sommersaison durch Touristen aus Euro-Ländern florieren wird, bleibt definitiv abzuwarten. Der Musikjournalist und -Autor Cumhur Canbazoğlu meint: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie musikbegeisterte Touristen 20-30 CDs in ihren Koffern hatten. Dabei meine ich ausschließlich englischsprachige Musik-CDs, da dieselben in ihren Ländern deutlich teurer sind. Meine Aussage beschränkt sich aber nur auf „musikbegeisterte Touristen”. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Normalverbraucher-Touristen überhaupt CDs kaufen. Jene bedienen sich eher dem digitalen Musikmarkt.
Rechtlich gesehen spricht dem Kauf von CDs in der Türkei auch nichts dagegen. Für Händler aus Deutschland wird kein Zollsatz für die Einfuhr von CDs in den europäischen Binnenmarkt erhoben. Es fallen lediglich Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von 19% an. Nach wie vor gilt für den Endverbraucher, auch für Touristen außerhalb der Türkei: keine zusätzlichen Steuern, keine zusätzlichen Gebühren auf CDs.

Quellen:

Ozan Irmak 🙂

Cumhur Canbazoğlu 🙂

https://haber.yasar.edu.tr/genel/turkiyenin-sahte-ve-kacak-bilancosu.html

http://www.haberturk.com/magazin/herkes-bunu-konusuyor/haber/731312-album-satis-listesi-aciklandi

http://www.ifpi.org/facts-and-stats.php

http://www.markakorumagrubu.org

http://tr.mu-yap.org

Copyright Image: Ibrahim Kızılgöz, Cenk Erdoğan

 

 

Die John Lennon Mauer in Prag

Die John Lennon Mauer in Prag

© Antje Sommer

Die Winterzeit ist vorbei und das warme Wetter in Europa lädt viele Menschen zum Reisen ein. Ein beliebter Reiseort in Europa ist zweifelsfrei die Hauptstadt Tschechiens, Prag. Erst bis vor Kurzem habe ich durch Antje Sommer (eine Freundin) über die Prager John Lennon Mauer, die in unmittelbarer Nähe zur Karlsbrücke steht, erfahren. Prompt stellte ich mir die Frage, warum eine Mauer nach John Winston Lennon benannt wurde.
Zugegeben, meine ersten Assoziationen waren eher Kampf gegen staatliche Repressionen, Streben nach politischer Freiheit und vor allem die Frage nach der Bewusstseinsbildung. Aber der Gedanke diese Mauer als einen touristischen Anziehungspunkt zu verstehen, war ebenfalls vorhanden. Doch was macht denn nun einen John Lennon so besonders und wie kam es zur „Personifizierung“ der Mauer? Bevor ich aber auf die Lennon Mauer eingehe, möchte ich zunächst einen kurzen Abschnitt zur Bedeutung John Lennons und der „The Beatles“ wagen.

 

Technischer Upgrade der Gitarre erreicht Masse

Rückblickend können wir festhalten, dass die Industrialisierung die Weltordnung grundlegend verändert hat. Dabei haben technologische Entdeckungen nicht nur für effiziente Produktionsmaschinen und Transportmittel gesorgt, sondern auch die Unterhaltungskultur maßgeblich beeinflusst. Es lohnt sich in diesem Sinne einen kurzen Blick auf die Organologie (Wissenschaft von Musikinstrumenten) zu werfen. Denn ab den 1920er Jahren gewinnt diese Disziplin einen besonderen Untersuchungsgegenstand, dessen Ausmaß große Teile der Weltgemeinschaft erreicht und ihre Musikkulturen begleitet: die Gitarre.

Zu nennen sind hierbei insbesondere die Arbeiten von John Dopyera, der im Jahre 1925 die Resonatorgitarre entdeckt, sowie von George Beauchamp und Adolph Rickenbacker, die zu Beginn der 1930er elektromagnetische Tonabnehmer in die Gitarre einbauen. Diese Arbeiten waren mit der einfachen Frage verbunden, wie man die Gitarre noch kräftiger zum Klingen bekommen kann, um somit die Zuhörerschaft auf Auftrittsorten zu erhöhen – eine typische Motivation im beginnenden Zeitalter des Massenkonsums.
Später kommen Gitarrenverstärker als unverzichtbare Wegbegleiter zahlreicher Bands dazu. Diese Entwicklungen führten zu neuen Musikstilen, Zielgruppen mit zunehmenden Szenenkulturen und ebenfalls zu neuen Veranstaltungsformaten von Konzerten und Festivals.

All you need is love, Baby

Kurz vor Mitte des 20. Jahrhunderts passiert in der Musikgeschichte etwas, was zuvor noch nie geschah. Jugendliche werden als Zielgruppe definiert, woraus zielgruppengerechte Musiktexte und vor allem neue Ausdrücke von Lebensvorstellungen entstehen. Es folgt in der Tat eine junge Generation, die durch ihre Abkehr zu traditionellen Lebensvorstellungen neue Wege des Ausdrucks suchten – im späteren Verlauf entwickelte sich dieser Ausdruckswille zu einer Konterkultur. In dieser Zeit waren Jugendliche nicht nur Konsumenten von herausgebrachten Musiken, sie waren vielmehr auch diejenigen, die diese Musiken produzierten, aufführten und diese öffentlich verkörperten.

Zu den bekanntesten gehören „The Beatles“, die durch ihre unorthodoxen Aussagen es geschafft haben Diskussionsgegenstand im britischen Parlament zu werden. Mit dem Song „All you need is love“ bei der Liveaustrahlung im „Our World“, einer global ausgestrahlten Sendung der British Broadcasting Corporation (BBC), am 25. Juni 1967 erreichten sie ca. 400 Millionen Menschen in 26 Ländern. Drei Jahre zuvor, am 09. Februar, waren die Beatles zu Gast in den USA, als die amerikanischen Streitkräfte in den Norden Vietnams einmarschierten. Dieser Besuch sollte die Nachrichten der US-Kriegspolitik decken und mit der bewussten Förderung der Popkultur durch die Bezeichnung „Beatlemania“ Jugendliche ablenken. Ihr Debüt im amerikanischen Fernsehen verfolgten mehr als 74 Millionen Menschen. Reichweiten, von denen so manche Systemakteure nur hätten träumen können. Dennoch wussten Politiker nicht, wie sie mit dem Ansturm der Jugendlichen und der damit verbundenen gesellschaftspolitischen Dimension umgehen sollten. Es waren Zitate wie die von John Lennon „We are more popular than Jesus now.“, die die weltweite Aufbruchstimmung der Jugendlichen gegenüber der systemkonformen älteren Generation aufheizen sollten. Ereignisse wie der Kalte Krieg und dessen globale Auswirkung, die aufsteigende Popkultur durch Fernseher und Musik waren Impulsgeber dieser Stimmung.

„From Napoleon and Caesar“

Menschen, die staatsilloyal waren und das geordnete und geregelte Leben infrage stellten, gehörten fast in jedem Nationalstaat zu den Unruhestiftern und galten somit als Staatsfeinde – dementsprechend wurden sie auch so behandelt. Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit, dass die FBI gegen John Lennon angehen wollte und knapp 40 Kilo Aktenmaterial über ihn besaß. Sogar Elvis Presley hat dabei gegen die Beatles ausgesagt und ihre Musik als Problembereiter der damaligen Jugend reduziert. Schließlich beschränkte sich die Einflusssphäre der Beatles auf die junge Generation nicht nur durch ihre Musik oder ihren Outfits, sondern auch durch ihre Kommunikationsform gegenüber der von der älteren Generation dominierten Gesellschaft:

„Reporter: ,What do you boys plan to do after this?´
Ringo Starr: ,What else is there to do?´
Reporter: ,How much schooling did you have?´
Ringo Starr: ,Enough.´
Reporter: ,Where did you get your hairstyle?´
Paul McCartney: ,From Napoleon and Caesar.´ “

Lennons Texte auf Demos

John Lennon und Paul McCartney waren das unschlagbare und kurze Zeit später von Hassliebe erfüllte Songwriter-Duo dieser Zeit. Lennon war jedoch derjenige, der in seinen Liedertexten ethische Fragen im Rahmen politischer sowie sozialer Themen behandelte. In politisch brisanten Zeiten zeigten die Songs ihren Nutzen für Anti-Kriegs-Aktionen. So schrieb Lennon im März 1971 im Zuge des Vietnamkrieges den Song „Power to the People“, welcher auf einer Anti-Vietnamkrieg-Demo gesungen wurde. Zudem wurde das ebenfalls legendäre Lied von Lennon „Give Peace a Chance“ in zahlreichen Demonstrationen gesungen. Ab und zu mal mit der einzigen Ausnahme, dass Demonstranten im Refrain statt „All we are saying is give peace a chance“; „All we are saying is get Nixon´s Ass“ sangen.

Verglichen mit den anderen Bandmitgliedern war Lennon der Exzentriker schlechthin. Er verkörperte das vielleicht von jedem Menschen innerlich ersehnte friedliche und tabulose Leben. Vielleicht sind es nicht nur die sozialen und politischen Standpunkte, die Lennon zu dem machen, was er war und immer noch ist, sondern auch die damit verbundene konträre Lebensanschauung und vor allem Lebensweise gegenüber etablierten Strukturen.

Die Entstehung und gesellschaftspolitische Bedeutung der Lennon Mauer

Nachdem Tod von Lennon entsteht in Prag die Lennon Mauer, die zuvor Zeď nářků hieß und schon damals als eine Klagemauer gegen das kommunistische Regime in der damaligen Tschechoslowakei fungierte. Charakteristisch für die Mauer sind die zahlreichen – größtenteils sich überdeckten – zum Frieden aufrufenden Zitate aus Lennons Werken sowie Abbildungen von Lennon selbst. In den 1980er Jahren nehmen die Auseinandersetzungen mit der kommunistischen Führung zu. Auf den Mauern sind nicht mehr nur Abschnitte von Lennons Songtexten zu lesen, sondern auch direkte Kritiken gegen die führende kommunistische Regierung. Auch wenn regierungsnahe Gruppen die Kritiken und Zitate mit Farbe überdeckten, waren diese innerhalb weniger Tage wieder bemalt. Die Entschlossenheit, Meinungen auf dieser Mauer ausdrücken zu wollen, war einfach zu stark. Es kommen zu (teils heftigen) Auseinandersetzungen zwischen Regimegegnern und Regime-Befürwortern. Regimegegner beruhten ihren Kampf gegen Regime-Befürworter auf Lennon, der für sie als Inbegriff einer idealen Welt galt. Um ihrer Überzeugung und ihren Handlungen einen festen Halt zu geben, fügen sie später das Suffix -ismus an Lennon an. Der Lennonismus war nun Ausdruck einer Bewegung, deren Impuls auf einer weltverbesserischen Ideologie fußte.

Wandel der Staatsform

Ende der 1980er Jahre befanden sich viele osteuropäische Staaten in der Endphase des Kommunismus. Die Tschechoslowakei wechselte innerhalb weniger Wochen ihr Staatssystem vom Realsozialismus zur Demokratie. Diesen Übergang, der größtenteils friedlich verlief, bezeichnet man als Samtene Revolution. Am 01. Januar 1993 ging die Tschechoslowakei zur tschechischen Republik und von ihr getrennt zur slowakische Republik über. Mit diesem Wechsel entstanden jedoch Fragen zum Wesen der Lennon Mauer: Bleibt die gesellschaftspolitische Essenz bestehen? Welche Bedeutung wird sie von nun an haben? Wie wird der Staat und dessen Bevölkerung mit der Mauer umgehen?

Wall is over – Überbleibsel oder kulturelles Erbe?

Die Lennon Mauer entwickelt sich zu einem Ort, an dem zwar immer noch die Ideale einer friedlichen Welt festgehalten werden, jedoch wird sie vielmehr zu einem Anziehungspunkt der Prager Kulturlandschaft mit zunehmend touristischem Charakter, auch unter Obhut der Stadt. Unzufriedenheiten werden weiterhin auf der Wand verewigt und sogar nicht nur auf die eigenen Staatsgrenzen beschränkt. Heute drücken die Menschen ihren Unmut zu globalen Ungerechtigkeiten auf der Mauer aus, indem sie beispielsweise Nachrichten an unter staatlichen Repressalien leidenden Menschen richten. Damit gewinnt die Bezeichnung „globale Kommunikation“ eine weitläufigere Bedeutung.

Ob die Mauer aber für die Bevölkerung der Tschechischen Republik gesellschaftspolitisch noch von Bedeutung ist, bleibt offen. Am 25. Jahrestag der Samtenen Revolution bedeckt eine Studierendengruppe die komplette Wand mit weißer Farbe. All die Schriften und Abbildungen der vergangenen Jahre waren verschwunden. Es folgte harsche Kritik vom Eigentümer der Mauer und von städtischen Vertretern, die es eher bevorzugten die Mauer in ihrem gegenwärtigen Zustand zu schützen. Einer der Studenten war der festen Überzeugung, dass sie im Namen aller, die nach der Samtenen Revolution geboren waren, gehandelt haben. Man sei sich dem gesellschaftspolitischen und historischen Wert der Wand durchaus bewusst, doch wollten sie mit dieser Aktion ein eigenartiges Zeichen zum Fall der Berliner Mauer und zum Eisernen Vorhang setzen. Man kann sicherlich zu dieser Aktion Position beziehen, doch sie bringt eine durchaus diskussionswürdige Frage hervor: Haben die Studierenden doch nicht im Sinne des Lennonismus gehandelt? Denn die Konservierungsabsichten der Kritiker wären höchstwahrscheinlich nicht mit den Idealen Lennons vereinbar gewesen, oder doch?

Bestaunen, Selfies machen und zur Stimmung beitragen

Trotz dieser Auseinandersetzung hat die Mauer es geschafft, sich wieder „bemalen“ zu lassen, und sie ist genauso bunt und aussagekräftig wie zuvor. Mittlerweile zählt die Mauer zum festen Bestandteil der Prager Kulturszenen und etabliert sich zu einem wichtigen Zielort für Touristen. Dass der touristische Wert der Mauer zu Gunsten der Prager Kulturlandschaften gepflegt wird, erfahre ich durch die Aussagen von Antje. Ich fragte sie nicht nur nach der Mauer selbst aus, sondern auch über die Aktivitäten um die Mauer herum. Gibt es Möglichkeiten Souvenirs zu kaufen? Was ist, wenn mal der Magen knurrt – gibt es in unmittelbarer Nähe Imbissstuben oder Ähnliches? Sind Straßenkünstler anzutreffen? Was für eine Stimmung kann man wahrnehmen? Antje schildert ihre Eindrücke wie folgt:

„Tatsächlich gibt´s nur ein John Lennon Bistro direkt daneben 😀 Die Mauer ist eher ein Insidertipp, dennoch verschlägt es die selfiehungrige Masse gerne dorthin, wenn sie noch nicht genug von der Karlsbrücke bekommen haben, die keine 500 Meter entfernt ist.
Tatsächlich bietet einer dort Polaroids an, die man von sich machen lassen kann, und oft tummeln sich Amateurgitarristen davor, die aber nichts von John Lennon singen.
Heute bot ein Tourist selbst ein Ständchen an, er durfte sich die Gitarre leihen. Für etwa 4 Minuten stimmte dann seine Gruppe spontan mit in seinen Gesang ein. Das Lied kannte ich leider nicht, aber die Atmosphäre war schön – die Gruppen waren größtenteils aus Asien, England und Deutsche.”

Auch wenn es um überwiegend touristische Attraktionen handelt, deutet Antjes Bericht darauf hin, dass die Lennon Mauer es geschafft hat Menschen in einer friedvollen Atmosphäre einen Raum zur Entfaltung anzubieten, vielleicht sogar ganz im Sinne John Lennons.

 

Bildergalerie:

© Antje Sommer

 

© Antje Sommer

 

© Antje Sommer

 

© Antje Sommer

 

Quellen:

Antje Sommer 🙂

Hertsgaard, Mark: The Beatles. Die Geschichte ihrer Musik. München: dtv, 2000.

Wicke, Peter: Rock und Pop. Von Elvis Presley bis Lady Gaga. München: Beck, 2011.

Difference between Paul and John

https://www.kulturraumverdichtung.de/beatlemanie-in-prag.html

https://prag.de/john-lennon-mauer-in-prag-sehenswuerdigkeit-geschichte-bilder-infos-gefahren/

http://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/wall-is-over-lennon-mauer-in-prag-wurde-weiss-uebertuencht

https://de.wikipedia.org/wiki/John_Lennon#Neue_Wege_und_das_Ende_der_Beatles

https://de.wikipedia.org/wiki/John-Lennon-Mauer

 

Kardeş-Türküler: Protestmusik mal anders (Erstveröffentlichung: 2013, Gazete Frankfurt)

Kreativität und Sinngehalt sind charakteristische Züge der Protestbewegung um den Gezi-Park. Die aus mehreren Musikern bestehende Gruppe Kardeş-Türküler zeigt genau, welche Feinheiten sie im Musikvideoclip nutzten, um die von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan geführte AKP-Regierung zu kritisieren.

Hier geht es zum Song: https://www.youtube.com/watch?v=o-kbuS-anD4

 

Erdoğans rhetorische Mittel als kreative Zutat

Der vermeintlich kreativste Song über die Gezi-Park Demonstration gehört der Musikgruppe Kardeş-Türküler mit dem Titel Tencere Tava Havası – Topf- und Pfannenluft (Im Sinne von Geräusch). Ideengeber dieses Titels ist ironischerweise der Premierminister Erdoğan selbst, der die benutzten Stimmungsmacher der Demonstranten, bestehend aus Küchenmaterialien, zu relativieren versuchte: „Ich sage nur eines. Topf und Pfanne zeugen die gleiche Luft“. Es scheint zu sein, als ob sich Kardeş -Türküler beim Premier bedanken wolle, indem sie den, im wahrsten Sinne des Wortes, Fauxpas Erdoğans am Anfang des Songs als Intro genutzt und somit verewigt haben. Es ist für diese Bewegung typisch geworden, dass Demonstranten sich Erdogans Worte zu Eigen machen. So haben von Erdoğan verwendete Begriffe wie Çapulcu oder Ayyaş bei den Menschen längst einen Legendenstatus erreicht und werden von den Demonstranten eher als motivierend statt beleidigend empfunden und für kreative Zwecke genutzt, wie zum Beispiel die Benennung eines Online-Senders „Çapulcu -Tv“ oder bedruckte „I´m Çapuling“ T-Shirts.

 

Die „Wir-Sie“ Rhetorik Erdoğans, die er in seinen Reden oftmals verwendet, kommt in dem Songtext nicht zu kurz. Besonders in der zweiten Strophe des Songtextes wird dieses Perspektivenspiel deutlich zum Ausdruck gebracht:

 

Nachdem sie ihre Schatten nicht verkaufen konnten,

verkauften sie die Wälder.

Sie rissen und schlossen Kinos und Aufenthaltsorte ab.

Überall Einkaufszentren, ich habe keine Lust die Brücke zu überqueren.

Was ist aus unserer Stadt geworden, überfüllt von Gebäuden.[1]

 

Wer genau „Sie“ sind, ob Regierung oder Unternehmen aus der Wirtschaft, wird hierbei genauso unklar verwendet wie Erdogan in vielen seiner Reden. Die Auswahl religiös und politisch-historisch beinhalteter Begriffe wie beispielsweise ferman, welcher in Zeiten des islamisch geprägten Osmanischen Reiches als legitimer Befehl des Sultans zu verstehen galt, wird im Songtext genutzt. Auch Erdogan verwendet in seinen Reden Begriffe dieser Form.

 

Beeindrucken durch Musik

Wie tatsächlich harmonisch Küchenmateriale klingen können, wird anschließend durch die Musikgruppe im Achteltakt vorgeführt. Ob Gläser, Töpfe, die man üblicherweise nur mit leckeren Mahlzeiten in Verbindung bringt oder Pfannen, in denen wahrscheinlich kurz vorher noch Eier gerührt wurden, fungieren in dem Song als Musikinstrumente. In der Sequenz zwischen 02:46 – 02:49 ist sogar zu sehen, dass einige Bürger mitspielen, welches wohl die Bürgernähe der Musikgruppe und im Allgemeinen die Partizipation aller Bürger am Geschehen ausdrücken soll. Auch die bunte Mischung der Demonstranten auf den Straßen wird durch den polyphon gesungenen Refrain aus weiblichen und männlichen Stimmen zum Ausdruck gebracht.

 

Wie gut man die Wut der Demonstranten in diesem Song mit einem traditionellen musikalischen Element in Verbindung bringen kann, zeigt die Musikgruppe in der Sequenz 02:39 – 03:42. Hier wird die traditionelle uzun hava – ein langgezogener Gesang – als das musikalische Mittel für melancholischen Ausdruck verwendet, welches die Klage und die Leidenschaft der wütenden Demonstranten wiedergibt und mit Videoabschnitten von Demonstrationen begleitet wird.

 

Medienkritik

Ein besonderer Kritikpunkt der Demonstranten und deren Sympathisanten bezieht sich auf die mangelnden Berichterstattungen der Mainstream-Medien. Gerade in anfänglichen Demonstrationswellen, in denen bereits zahlreiche Verletzte gaben, strahlten die großen TV-Sender ihre gewöhnlichen Sendungen aus und verzichteten darauf, über die Demonstrationen live zu berichten. Den Sender CNN-Türk hat es hierbei am schwersten getroffen. Zeitgleich mit den Straßenkämpfen zeigte CNN-Türk eine Dokumentation über Pinguine und legte somit die Weichen ein Spottsender zu werden. Die Pinguine jedoch bekamen einen Kultstatus und wurden zum einen der zentralen Symbolfiguren der Demonstrationen. Auch im Video wird auf diesen Kritikpunkt hingewiesen und gezeigt, wem man für diese Symbolfigur danken könnte.

 

 

[1] Deutsche Übersetzung aus der Sequenz 01:33 – 02:13

Halay! Ein traditioneller Volkstanz aus Anatolien ist lebendiger denn je (Erstveröffentlichung: 2012, Media4us)

Am 30. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet. Das erste rechtlich verbindliche Schriftstück, in der die Anreise von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland mit einer maximalen Aufenthaltsdauer von zwei Jahren festgehalten wurde. Doch durch einige Gesetzesänderungen blieben viele Arbeitskräfte und gründeten Familien. Dabei haben sie einiges an kulturellen Traditionen aus ihren Herkunftsorten mitgebracht. Unter anderem den traditionellen Volkstanz aus Südostanatolien – „Halay“.

https://www.youtube.com/watch?v=9Sb64sG-zUc

Fragt man heute einen in Deutschland lebenden Jugendlichen mit türkischem oder kurdischem Migrationshintergrund, wann der nächste Halay stattfindet, kriegt man höchstwahrscheinlich einen konkreten und zeitnahen Termin genannt. Denn Halay wird überall und zu fast jeder Zeit getanzt: auf Hochzeiten, Geburtstagen, Demonstrationen und selbstorganisierten „Halay-Partys“. Die 21-jährige Ezgi A. packt sogar einen drauf: „Ich tanze Halay, wenn mir langweilig ist. Auch auf der Straße, einfach so.“

Vielleicht erklärt sich so, warum Jugendliche „komische“ Kreistänze auf dem Domplatz in Köln, in der Fußgängerzone in München oder an vielen Bahnhöfen tanzen. Einige Jugendliche treffen sich an Wochenenden und unternehmen einen Tripp in die nächste Großstadt, um in der Öffentlichkeit Halay zu tanzen und die kulturellen Schätze ihrer Vorfahren zu präsentieren.

Youtube und Facebook als Plattform

Dabei werden die Tänze mit dem Mobiltelefon aufgenommen, schnellstmöglich auf Youtube hochgeladen und auf Facebook veröffentlicht. Die Verlinkungsfunktion von Facebook sorgt dafür, dass die Videos schnell verbreitet werden. Es folgen Kommentare, unter anderem aus der Heimat, von Verwandten und Bekannten.

Dr. Peter Holzwarth und Prof. Dr. Horst Niesyto, Wissenschaftler im Bereich interkulturelle Medienbildung und -Pädagogik an den Universitäten Zürich und Ludwigsburg, erklären in einem Forschungsbericht zur Mediennutzung junger Migranten, Medienformen wie Facebook förderten die Identifikation mit und den muttersprachlichen Kontakt zur Herkunftskultur. Kulturelle Ausdrucksformen wie der Halay haben in ethnischen Communities die Funktion einer kollektiven, herkunftsbezogenen Selbstvergewisserung.*

Traditionell vs. Modern

Traditionell haben die Halay-Schritte einen kontextuellen Bezug, das heißt sie bilden die Situation der örtlichen Landwirtschaft oder die sozialen Bindungen ab. Mal geht es um die Fruchtbarkeit des Ackerfeldes, mal um die Arbeit auf dem Acker. Aber auch Probleme werden angedeutet. In Diyarbakir (in der Ost-Türkei) gibt es etwa Tanzschritte, die das Zertrampeln von Acker-Schädlingen imitieren. Andere symbolisieren die Beziehung zwischen Mann und Frau.

Die Frage ist, wie Jugendliche mit diesem Wissen umgehen. „Vielen Jugendlichen sind solche Hintergründe fremd. Es wird irgendetwas getanzt. Ein Mix aus Halay und Hip-Hop-Elementen oder, je nach momentaner Gefühlslage, irgendeine Bewegung, die gar keine Bedeutung hat“, meint die 19-jährige Alev O. Das Interesse vieler Jugendlichen mit türkischem/kurdischem Migrationshintergrund an Hip-Hop führt zu interessanten Versuchen, Halay mit modernen Elementen zu verbinden. So sind bereits professionelle Videoclips von Musikbands auf Youtube zu sehen, die genau diesen Ansatz verfolgen. Aber auch selbstgedrehte Amateuraufnahmen findet man im Netz, die von der Produktivität und Kreativität vieler Jugendlicher zeugen.

https://www.youtube.com/watch?v=AGPYpHCEtpg

So viel kulturelles Gut haben die sogenannten „Gastarbeiter“ also mitgebracht. Ein Halay-Hip-Hop-Tanz im Bundestag während einer undifferenzierten Debatte über die zum Scheitern verurteilte „Integration“ wäre wünschenswert und bestimmt sogar amüsant.

*Den Forschungsbericht zum Thema kann man hier abrufen.

Die Bağlama ist meine Weggefährtin…

Elif Abla* lernte ich 2011 in einem Kunst- und Kulturzentrum namens Kreativa kennen. Sie selbst gehört zu den herzlichsten, tief denkenden und bescheidenen Menschen, die ich kenne. Ihre Worte und ihre Ausstrahlung geben mir seit dem Tag unseres Kennenlernens eine einzigartige Kraft. Sie lernte die Laute Bağlama** und später Gitarre spielen – mit einer selten erlebten Liebe und Leidenschaft. Ich fragte mich schon seit langem, wie sie eigentlich dazu kam zu musizieren; Wie war ihr Zugang zu Musik?
Wie frei konnte sie sich dabei entfalten? Hatte sie Vorbilder?
Folgend ein Ausschnitt aus dem Interview mit der aus Kırşehir/Dalakçı stammenden Elif Abla:

 

Elif Abla, was bedeutet Musik für dich?

Musik bedeutet in meinem Leben Licht. Für mich ist sie ein Weg, ein Licht. Sie ist also etwas, was in mir ist. Als ich in meiner Kindheit hier und dort die Klänge der Bağlama hörte, wollte ich unbedingt zum Spielort, um zu sehen wie sie gespielt wird. Auf Hochzeiten machten die Abdal*** Fasıl und ich hatte eine eigenartige Neigung dazu, die zugleich auch einzigartig im Vergleich zu den Leuten aus meiner Umgebung war.
Natürlich ziehst du dich zurück, weil du dich, gerade als Frau, nicht so offen zeigen darfst. Stattdessen habe ich spät erfahren, dass meine Neigung zu Musik und speziell zur Bağlama eine Leidenschaft war. Ich hatte keine Möglichkeit mir eine Bağlama in irgendeiner Weise zu erwerben. Daher habe ich mir eine selbst gemacht, aus Holz und Stahlseiten, die an unserem Fenster gebunden waren. Doch ich hatte stets diesen Zweifel in mir, der mich ständig beschäftigte; Warum besitze ich eine so große Leidenschaft gegenüber diesem Instrument und andere nicht?
Darin bestand der große Zwiespalt in mir. Im Laufe der Zeit habe ich diesen Zwiespalt als eine Eigenschaft betrachtet, die ich jetzt mag. Aber damals; niemand gönnt dir das, niemand erwartet eine derartige Leidenschaft von dir. “Mache bloß deine Arbeit!” Das, was man von dir erwartet. Für mich ist aber die Leidenschaft zur Bağlama ein Licht, ohne sie ich nicht leben kann. Meine Beziehung zur Bağlama kann ich schwer beschreiben. Sie ist meine Weggefährtin. Manchmal hast du Tage, an denen du dich nicht gut fühlst. Du hast Probleme, die du mit niemandem teilen willst, weil du weißt, dass die Person dich eh nicht versteht. Die Bağlama versteht mich immer, sie hört mir zu, versenkt mich in eine Ruhe und treibt mich in einen befriedigenden Zustand. Und das Schönste daran ist, dass sie von mir gar nichts will (lacht). Sie gibt mir immer etwas, und das seit Jahren. Sie sagt nicht, „ich habe dir das gegeben und jetzt musst du mir das geben“.

Du hattest vorhin von den Abdal erzählt. Wie wichtig waren sie für deine Begegnung mit der Bağlama?

In einem Dorffest hörte ich das erste Mal die Bağlama. Die Radiosender konnten unsere Geschmäcker nicht immer treffen. Ein Thema, worüber diskutiert werden muss, weil gewisse Absichten seitens des Staates vorhanden waren. Die Sender spielten zumeist nur das ab, was sie für hörbar hielten. Da war beispielsweise dieser „polis radyosu“ (Polizei-Radio-Sender) – wobei wir auch ziemlich später ein Radio besaßen. Dort spielten sie Arabesk ab und das, was sie für abspielbar hielten. Livemusik hatte ich immer von den Abdal erlebt. Die Abdal kommen immer zu Hochzeiten, die über den ganzen Sommer in Dörfern stattfinden. Dort habe ich Musik erlebt. Das vielleicht Komischste an der ganzen Sache ist, vielleicht nicht komisch, weil die Zeit eben so war, ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine Bağlama besitzen würde. Ich weiß nicht, „niemand würde mir eine kaufen“ dachte ich immer, weil eben unter den Dorfbewohnern niemand eine besaß. Bis heute eigentlich noch, was sehr traurig ist. Die Abdal kommen eh aus Kırşehir. Im Sommer musizieren sie dann auf Hochzeiten. Ich habe also das Glück gehabt, die Bağlama von ihnen live gehört und gesehen zu haben. Wie ein Kind sprechen lernt, so lernen die Abdal die Bağlama zu beherrschen. „Hier nimm die Bağlama und lerne!“, so etwas gibt es nicht. Immerhin hatten wir und das Umfeld unseres Dorfes das Glück gehabt, sie live gesehen und gehört haben zu können.
Daher kommt auch meine Leidenschaft. Mit meinem jetzigen Bewusstsein, wäre ich damals nie traurig gewesen, warum ich die Bağlama so liebe. Genau da gab es sehr viele Widersprüche in mir. Auf der anderen Seite war ich auch traurig, weil keiner so war wie ich. Ich konnte mich von der Bağlama nie trennen. Frauen konnten zu den Fasıl nicht hingehen. Was du von der Ferne zu hören bekommst, damit musstest du dich zufrieden geben, nur so wenig. Du hattest keine Chance als Frau an den Fasıl**** teilzunehmen, deswegen war ich auch sehr traurig. Andererseits wäre es nicht angemessen gewesen einfach hinzugehen und an den Fasıl teilzunehmen.

Also waren diese Art von Umfelder von Männern dominiert?

Ja, von Männern. Fasıl wurde nur von Männern veranstaltet und durchgeführt. Andererseits hatten wir aber die Möglichkeit auf Hochzeiten und auch bei ihnen zu Hause Fasıl-nahe Darbietungen zu erleben. Dort waren Frauen und Männer immer gemischt, wie im Alltag. Das ist auch das Schöne daran. Nur zu den Fasıl hatten wir einfach keinen Zugang. Ich wünschte, dass auch Frauen an den Fasıl hätten teilnehmen können. Alles in allem habe ich aber im Laufe meines Lebens bemerkt, dass ich etwas reines und natürliches erhalten habe. In dieser Zeit wusste ich nicht, dass die Klänge so wertvoll sein würden. Später habe ich auch über die Ozan erfahren.
Zur Schule konnte ich nur bis zur Grundschule gehen. Die Ozan haben mir stets Wege gezeigt und ich habe viel von ihnen gelernt. Ich pflege zu ihnen ein sehr großes Vertrauen. Wenn ein Ozan etwas singt, dann ist es die Wahrheit der Gesellschaft. Die Worte von den Ozan schützen mein Vertrauen zu ihnen und die Werte, die nicht verloren gehen dürfen.
Sei es ihre Worte oder ihre Klänge. Besonders als ich hier nach Europa kam und ich zum verlieren meines Selbst verurteilt war, wie soll ich es erklären.. Für mich sind sie sehr wichtig. Ansonsten wäre ich hier bei den Türkü-Bars***** verloren gegangen. Auch hier waren die Ozan bei mir, weil ich keine Chance hatte die Abdal Live zu erleben. Seitdem sind die Ozan für mich ganz wichtig, ein essentieller Bestandteil meines Lebens. Sei es ihre Liedertexte, ihre Klänge.. Sie haben mir auch dabei geholfen gegen die Konsumgesellschaft bewusster und kontrollierter standzuhalten. Dank ihres Lichtes.
In Europa haben wir ihre Kasetten gekauft. Sie kamen uns zur Hilfe, wie beispielsweise Aşık Mahsuni Şerif, Muharrem und sein Sohn Neşet Ertaş sowie weitere Namen, die mir gerade nicht einfallen. Auch die Aşık und Ozan, die vor ihnen gelebt haben. Wenn diese Leute Worte von sich geben, dann ist etwas dahinter. Sie wissen, wovon sie sprechen. Sie sind das Licht der Gesellschaft. Sicherlich machen sie auch Fehler, wie jeder Mensch, aber innerhalb unserer Gesellschaft sind sie meiner Meinung nach diejenigen, die die Wahrheit unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen.
Manchmal befinden sich Menschen in einer Phase, die sie in einen Kreislauf drängt und du empfindest großen Selbstzweifel. Das System will von dir etwas anderes und dein Inneres will etwas von dir anderes. Du befindest dich ständig in diesem Kampf. Deshalb brauchst du ein Licht, zu dem du dich wenden kannst. Andererseits wird dich der Kreislauf vernichten. Ab und zu befinde ich mich in solch einem Zustand, dann greife ich auf die Worte der Ozan zurück. Sie helfen mir dabei aufrecht zu bleiben. Daher werde ich nicht mehr so leicht fallen können, da ich mich an sie geklammert habe. An ihre Worte voller Licht. Leider sind aber zu viele in diesem Kreislauf und können es nicht kontrollieren. Das ist genau der Punkt, wo du sie nicht verstehst und sie dich nicht verstehen. Auch diese Situation ruft Selbstzweifel hervor.

Kannst du etwas genauer erklären, wie du deine erste Bağlama gemacht hast?

Wie ich schon sagte, ich pflege eine sehr leidenschaftliche Beziehung zur Bağlama. Meine Eltern habe ich nicht fragen können, ob sie mir eine kaufen. Das käme auch gar nicht in Frage. Niemand hatte eine Bağlama, außer die Abdal. Hinzu kommt, dass man sich vor der Gesellschaft irgendwie rechtfertigen musste. Es gehörte sich einfach nicht vom Vater eine Bağlama zu wünschen, und dann noch als Mädchen. Es war also etwas unerreichbares für mich. Letztendlich habe ich mir aus einer Holzlatte und Fenster-Stahlseiten, es waren breite und verrostete Stahlseiten, sowie verrosteten Nägeln eine Bağlama gebaut. Für mich die Schönste, die ich jemals besaß. Mir war es damals nicht bewusst, welchen Wert diese eigentlich hatte. Aus heutiger Sicht ist sie definitiv sehr wertvoll für mich.
Danke!

 

* Abla und Abi sind nicht nur Bezeichnungen der Verwandschaftsbeziehungen. Diese beiden Begriffe verwendet man auch gegenüber Älteren oder Personen, die respektiert werden.
** Eine Laute aus der Türkei
*** Unter den Begriffen Abdal, Aşık und Ozan sind zumeist wandernde Dichtersänger zu verstehen. Sie unterscheiden sich in ihren Eigenschaften und Textinhalten. Während die Liedertexte der Abdal und Aşık von mystischen und religiösen Themen bestimmt wird, sind die Inhalte der Ozan heutzutage weltlich tendiert. Um die Aussprache nicht mit Pluralsuffixen zu „entharmonisieren“, benutze ich in Deutsch die Bezeichnungen sowohl im Singular als auch im Plural.
**** Eine Zusammenkunft, in der gemeinsam gespeist, gesungen und musiziert wird.
***** Bars oder Cafés, in denen Musiker gegen Bezahlung „traditionelle“ Lieder spielen.